Newsletter abonnieren
Hier anmeldenBehavioral Finance ist eine junge Wissenschaft mit alten Wurzeln, die durch die Vergabe des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften 2002 an einen ihrer hervorragendsten Vertreter, Daniel Kahneman, einen zusätzlichen Auftrieb erhalten hat. Ins Rampenlicht geriet Behavioral Finance jedoch vor allem wegen ihrer im Gegensatz zu anderen Theorien erkennbaren Nähe zu real beobachtbaren Börsenphänomenen.
Die Börsen unterscheiden sich von den Gütermärkten
Die Börsen unterscheiden sich vor allem aus zwei Gründen ganz wesentlich von den Gütermärkten. Der erste Grund besteht im Charakter einer öffentlichen Veranstaltung, der die Börsen kennzeichnet. Das Kapitalmarktrecht in allen führenden industrialisierten Ländern sorgt für eine symmetrische Verteilung von Unternehmensmeldungen, eine minimale Transparenz der Rechnungslegung und Berichterstattung der Unternehmen einerseits, sowie der Auftragsexekution und Preisfindung andererseits und wehrt den Missbrauch von Insiderwissen ab. Früher war das anders. Vor Errichtung der Securities and Exchange Commission 1931 in den USA, mit welcher der Grundstein für ein modernem Verständnis entsprechendes Kapitalmarktrecht gelegt wurde, waren manipulative Kampagnen, gezielte Indiskretionen, Irreführung, Missbrauch von Insiderwissen usw. an der Tagesordnung. Trotzdem war der öffentliche Charakter der Börse gegeben, wenn er auch ganz anders geartet war als heute: eine Kampagne ohne Einbezug der Öffentlichkeit war für die Promotoren auch in der Frühzeit des Kapitalismus ganz einfach nicht möglich. Ein Teil des öffentlichen Charakters kommt jedoch auch dadurch zustande, dass die kotierten Unternehmen daran interessiert waren und sind, sich in der Öffentlichkeit im besten Lichte darzustellen, wozu sie beispielsweise immer öfters zu Mitteln der „Investors Relations“ greifen. Ferner gehört es zum normalen Geschäftsgebaren von Finanzintermediären wie Banken und Broker, dass sie in der Öffentlichkeit ihre Meinung zu Finanzmarktdaten und Unternehmen ausbreiten, um dadurch Geschäfte zu akquirieren. Andere Beispiele könnten angeführt werden. Infolge des öffentlichen Charakters ist die Kommunikationsintensität an den Börsen qualitativ und quantitativ ganz anders geartet als an den Gütermärkten
Das andere bedeutsame Unterscheidungsmerkmal liegt in der Art und Weise, wie sich Angebot und Nachfrage zueinander verhalten. Während in den Gütermärkten je nach Theorie die Nachfrage dem Angebot folgt oder umgekehrt, gibt es keine Linearität zwischen der Ausweitung der Nachfrage und des Angebots bzw. deren Kontraktion an der Börse. Ganz im Gegenteil: die Tendenz zur Gleichgewichtssuche fehlt. Steigt die Nachfrage, kann es zu einem Schrumpfen des Angebots kommen, weil die Halter von Wertschriften als Folge der erkennbar zunehmenden Nachfrage auf anziehende Kurse spekulieren und nicht als Anbieter auftreten. Das Aktienangebot steigt in aller Regel in signifikanter Weise durch Kapitalerhöhungen und Neueinführungen an der Börse erst in der Endphase eines Bull Markets. Spiegelverkehrt erfolgt die Verknappung des Angebots durch Rückkäufe eigener Aktien, „Going Private“ etc., erst nach einer grösseren Baisse. Dadurch entstehen positive Rückkoppelungen, d.h. selbstreferentielle Prozesse, die zu Kursen führen, die weder mit den Fundamentdaten der Unternehmen noch mit gesamtwirtschaftlichen Daten erklärt werden können. Dieser Sachverhalt ist schon lange vor Behavioral Finance das Einstiegstor für alle heterodoxen Markttheorien gewesen, insbesondere jene von John Maynard Keynes und Friedrich von Hayek.
Was geschieht an der Börse?
An der Börse wird gehandelt. Vordergründig sind es Wertpapiere, doch im Kern werden Erwartungen gehandelt. Erwartungen sind im Grunde genommen nichts anderes als mehr oder weniger begründete Phantasien über die Zukunft. Folglich sind Erwartungen etwa so greifbar wie eine Forelle im Bach mit blosser Hand.
Die Börsianer haben zwei Zugänge zur Phantasiewelt der Börsenzukunft offengelegt. Einer führt über die Formulierung materieller Erwartungen anhand von Rechenmodellen, die vorwiegend aufgrund einer ganzen Reihe betriebs- und volkswirtschaftlicher Daten aus der Vergangenheit eine Vorstellung darüber entwickeln, wie Zinsen und Unternehmensleistungen (meistens als Cash flow oder Dividenden ausgedrückt) von ausgewählten Volkswirtschaften bzw. Unternehmen sich in Zukunft entfalten werden. Durch Abdiskontierung werden ein „fairer“ Wert ermittelt und Prognosen künftiger Preise abgegeben.
Wie schon John Maynard Keynes in seinem Hauptwerk „The General Theory of Employment, Interest and Money“ 1936 feststellte, haben Finanzmarktinformationen einen essentiell dualen Charakter indem relevante Ereignisse auf zwei Ebenen interpretiert werden: auf einer, die Erkenntnisse über real zugrundeliegende Fakten vermitteln soll, womit der obenerwähnte materielle Zugang zur Erwartungsbildung gemeint ist. Die zweite Ebene betrifft den Einfluss, den Informationen auf die Marktteilnehmer ausüben. Hier ist die Psychologie angesprochen.
Was werden die anderen tun?
In allen Bereichen, in denen die Handlungen der anderen bestimmend für den Erfolg der eigenen Dispositionen sind, muss diese Frage wenigsten approximativ beantwortet werden. Die Aufgabe von Behavioral Finance besteht nicht darin, ein Psychogramm der Marktteilnehmer zu erstellen und dann daran herum zu kritzeln. Das wäre ein ebenso unerfüllbarer wie unnützlicher Auftrag. Nützlich hingegen ist die Entwicklung einer Erwartungsbildungs- und Informationsverarbeitungstheorie, die einen statistisch relevanten Agenten entwerfen lässt, der den überholten homo oeconomicus der orthodoxen Finanztheorie ablöst. Es bietet sich aufgrund der bisherigen Behavioral Finance-Erkenntnisse der homo discens an. Dabei handelt es sich um das Bild eines unter dem Regime von Ungewissheiten und unter Zeitdruck subjektiv-rational Erwartungen bildenden und pfadabhängig lernenden Menschentypus.
Wie werden Erwartungen gebildet?
Am Anfang jeder Erwartungsbildung steht ein Reizereignis. An der Börse entsteht dieser aus der öffentlichen Kommunikation über Wirtschaft, Unternehmen, Recht, Politik, Gesellschaft und – was oft vergessen wird – durch Kursereignisse selbst. Kursschocks sowie länger anhaltende Trends beeinflussen die Wahrnehmung und stellen somit ein Reizereignis per se dar. Schon John Maynard Keynes stellte die hohe Abhängigkeit künftiger Erwartungen von vergangenen Erfahrungen fest. Heute weiss man, dass die Börse ein non-ergodisches System und nicht ein „Random Walk“ ist, d.h. dass eine starke Korrelation zwischen vergangenen Erfahrungen und künftigen Erwartungen besteht. Das kann auch nicht weiter überraschen, wenn man bedenkt, dass nach Wahrnehmung des Reizereignisses im Gehirn der einzelnen Teilnehmer eine Anfangscodierung stattfindet, mit deren Hilfe durch Abruf organisierten Wissens aus dem Gedächtnis eine Kategorisierung des Ereignisses erfolgt. In einem nächsten Zug wird erneut auf das im Gedächtnis organisierte Wissen Rückgriff genommen um Erwartungen zu bilden und darauf basierend allfällige Verhaltensreaktionen auszulösen. Dabei ist das Gedächtnis auf vier Ebenen strukturiert, wovon zwei für die Standardisierung von menschlichen Informationsverarbeitungsprozessen relevant sind: das semantische und das autobiografische Gedächtnis. Ersteres speichert angelerntes Wissen und letzteres persönliche Erfahrungen. Die Interaktion der beiden ist bei Entscheidungen unter Zeitdruck und unter dem Regime der Ungewissheit unkontrollierbar. Ferner ist kaum kontrollierbar, in welcher Weise über die Zeit das semantische vom autobiografischen Gedächtnis beeinflusst wird. Jedenfalls muss davon ausgegangen werden, dass keine statistisch relevante Population an der Börse Handlungen aufgrund der einst mit grossen Genuss aufgesogenen „reinen akademischen Lehre“ trifft.
Sind Verhaltensreaktionen rational?
Im Sinne einer materiellen Rationalität in Erfüllung des von Neumann/Morgenstern-Axioms: nein. Daher können keine auch nur einigermassen stabile Korrelationen zwischen Aktienkursen und ihrem intrinsischen Wert über längere Zeitspannen nachgewiesen werden. In der Tat weichen die Kurse meistens von den fundamental-ökonomisch angemessenen Werten ab. Das lässt jedoch nicht den Schluss zu, dass die Marktteilnehmer irrational handeln. Vielmehr ist zu unterstellen, dass die Marktteilnehmer eingehende Reizereignisse mit dem von ihnen gespeicherten Wissen prüfen und so zu ihrem Verständnis des Geschehens gelangen um im bestverstandenen Eigeninteresse zu handeln. Sie bilden ihr eigenes Informationsinventar, auf welches sie bei Reizereignissen zurückgreifen. Als Reizereignis sind – wie schon erwähnt – sowohl neue Meldungen zu verstehen als auch Kursentwicklungen, die die verfolgte Anlagestrategie bestätigen (was oft zu einer Überschätzung des eigenen Wissens führt) oder solche, die sich widerlegen, was meistens wegen der Abwehr der Reizereignisse, die der eigenen Zukunftsvorstellung widersprechen, recht spät zu einer Anpassung des Portfolios an die realen Kurstrends führt. Jedenfalls haben beide - Erfolg und Verdruss - einen Einfluss auf das autobiografische Gedächtnis.
Nebst der materiellen gibt es daher noch eine andere Art der Rationalität: Keynes nannte sie „Signalrationalität“, Friedrich von Hayek, der sowohl persönlich als auch akademisch ein Antagonist von Keynes war, jedoch in der Beurteilung der Finanzmärkte mit Keynes weitgehend übereinstimmte, brachte die „subjektive Rationalität“ vor, und heute wird diese andere Art der Rationalität, die vom Rationalitätsparadigma der orthodoxen Finanztheorie abweicht, als prozedurale Rationalität bezeichnet. Für sie hatte Hayek das Diktum kreiert, sie erlaube, das Richtige zu tun, ohne zu wissen, warum es das Richtige sei. Und Keynes stellte fest, im Zusammenhang mit den Börsen sei Information ein problematischer Begriff, da die Substanz des Nachrichtenflusses nicht objektiv bestimmbar sei, weil sie von der interpersonalen Dynamik zwischen den aus der Anonymität agierenden und lediglich über Preissignale kommunizierenden Marktteilnehmern abhänge. Diese Erkenntnis der beiden grossen Ökonomen ist immerhin so lange in Vergessenheit geblieben bis Behavioral Finance mit dem Begriff der Kontrollillusion nachdoppelte: dass wir mit Meldungen überflutet werden, bedeutet nicht, dass wir so informiert sind, dass eine materielle Kontrolle über unsere Aktienanlagen ausgeübt werden kann. Wer den Zeitpunkt des Rückflusses von Aktienanlagen in Geld bestimmen will, hat keinen Einfluss auf die Geldmenge, und wer letztere bestimmen will, kann den Zeitpunkt nicht frei wählen. Möglich ist bloss eine prozedurale Kontrolle: die Führung eines Portfolios in steter Anpassung an die grössten Geldströme. Dies, weil wir stets nur über ein Teilwissen verfügen, sozusagen über viele, aber nicht über alle Mosaiksteine, die für ein vollständiges Bild erforderlich wären.
Somit ist der rote Faden durch die Börse der: Heterogene Erwartungen werden durch die spontane Ordnung, die sich der Markt in Phasen positiver Rückkoppelungen durch starke Autokorrelationen gibt, homogenisiert. Das heisst dann despektierlich „Herdenverhalten“. Der Begriff ist falsch. Richtig ist, dass die Börse keine Aggregation von autonomen Individuen und kein Kollektiv von übereinstimmend handelnden Akteuren ist, sondern ein sozialer Prozess der die Interdependenz von authentischen Individuen mit ihrer gemeinsamen Institution Börse wiederspiegelt. Wer keine angemessene Balance zwischen Authentizität und Anpassungsnotwendigkeit findet, geht unter.
Was ist zu tun?
Um die Erkenntnisse von Behavioral Finance in die Praxis umzusetzen, ist mindestens ein vierstufiges Analyseverfahren auszuführen. Dieses beginnt mit einer Analyse der Geldströme anhand eines sorgfältig ausgewählten globalen Analysehorizonts von Indizes und Aktien mit dem Zweck, zusammenhängende Erwartungsmuster aus den Handlungen der Marktteilnehmer zu erkennen. Die Geldströme werden anhand der relativen Stärke einzelner Objekte im Vergleich zu einem kollektiv von Objekten gemessen. Dabei soll nicht die statische relative Stärke über eine bestimmte Periode ermittelt werden, sondern die Veränderungsrate der relativen Stärke.
In einer zweiten Stufe erfolgt die Preisanalyse. Dabei werden Elemente der fundamentalen Analyse ebenso berücksichtigt wie solche der technischen Analyse. Im Lichte der Erkenntnis, dass eine starke Abhängigkeit zwischen Erfahrung und Erwartungsbildung besteht, ist es sträflich nachlässig, wenn eine systematische Analyse der Kurshistorie unterlassen wird.
Das dritte Interessensgebiet gilt dem Kursmomentum. Phantasien, die sich nur langsam ausbreiten können sind auf andere Marktteilnehmer nicht ansteckend, während eine konstante Veränderungsrate der Kurse die mit der Kursbewegung übereinstimmende Vision in die Köpfe anderer Marktteilnehmer befördert. Ausserdem sind abrupte Kursschübe meist auf spezifische Nachrichtenschocks (positive oder negative) zurückzuführen, die nur manchmal nachhaltige Wirkung entfalten. Wann mit einer solchen gerechnet werden kann, bzw. wann nicht, lässt sich aus der Vernetzung vom Momentum mit den Relative-Stärke- und Kursdaten recht gut ausarbeiten.
Schliesslich sind Mengendaten wichtige Informanten. Wie Robert J. Shiller im Kapitel „Herd Behavior and Epidemics“ im Buch „Irrational Exuberance“ schreibt, haben Experimente gezeigt, dass die Menschen eher bereit sind, der Ansicht der Mehrheit zu folgen als den Tatsachen zu glauben, die sie selbst ermittelten. Folglich ist es nicht überraschend, dass neuere Studien einen Bezug zwischen Börsenumsätzen und künftigen Kursentwicklungen herstellen konnten.
Zur Volumenanalyse gehören nebst den getätigten Umsätzen selbstverständlich auch Daten, die Einfluss auf die Menge der zum Handel verfügbaren Wertschriften ausüben, wie vor allem Aktienrückkäufe durch Unternehmen, Kapitalerhöhungen und Börseneinführungen. Ferner sind Statistiken über Leerverkäufe und kreditfinanzierte Aktienkäufe, soweit erhältlich, aufschlussreich.
Was soll das Ziel der Analysen sein?
Das Ziel besteht nicht darin, vorherzusagen, welche Preise zu welchem Zeitpunkt bezahlt werden. Kursziele zu nennen greift weit über die Möglichkeiten von Börsenanalysen hinaus. Das Ziel muss bescheidener bleiben: es besteht darin, erfolgreich an den Börsen zu navigieren. Eine erfolgreiche Navigation ist erreicht, wenn auf Jahresfrist eine gegebene Messlatte, z.B. ein Renditeziel oder ein Index, überboten wird.
Alfons Cortés
Senior Partner
Unifinanz Trust reg.
Austrasse 79
LI-9490 Vaduz
Telefon +423 237 47 60
Fax +423 237 47 67
info(at)unifinanz.li
Newsletter abonnieren Hier anmelden
DatenschutzAllgemeine Geschäftsbestimmungen
Impressum / Nutzungsbedingungen
© 2019 Unifinanz Trust reg.