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Hier anmeldenDie Rückschläge im Oktober haben die Welt der Aktien-Anleger erschreckt. Die Reaktionen waren etwa so wie jene des kleinen Jungen, der mit der Hand in der Pralinen-Schachtel der Mutter ertappt wurde. Hat man ein schlechtes Gewissen, weil die Auswirkungen steigender Zinsen, zumindest in den USA, sportlicher Bewertungen, von Handelskonflikten und politischen Zerwürfnissen keine Kenntnis genommen hat, die, wie Philipp Hildebrand im in der Finanz und Wirtschaft vom 3. November veröffentlichten Interview sagte, «kaum beziffert werden können»? Oder geht es um mehr, wie Hildebrand etwa meint, wenn er sagt: «Der Konflikt zwischen den USA und China geht viel tiefer als nur in den Handel. Wir sehen einen Kampf um die technologische Vorherrschaft in der Weltwirtschaft. Wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, dass China langfristig mit dem Westen konvergiert. Es wird viel mehr in Richtung Wettbewerb zwischen zwei fundamental unterschiedlichen Modellen gehen.»? Ja, es geht um den bereits seit März 2017 wiederholt in dieser Publikation bemühten Schattenwurf der Politik. Und es geht um die Börsen, die diesen mit einer extrem heterogenen und folglich sehr ereignisgetriebenen Verfassung quittieren. Irgendwann werden alle verstanden haben, dass es nicht nur Bullen- und Bärenmärkte gibt. Es geht um pfadabhängige Systeme. Darauf möchte ich nun näher eintreten.
Solche Systeme haben vor allem drei Eigenschaften. Alle bereiten den Börsianern seit jeher Kopfzerbrechen, eine ganz besonders, was darin liegt, dass der Ausgang offen, nicht prognostizierbar ist und ineffizient sein kann, und das heisst, dass Bewertungen weit von nachvollziehbaren Daten abweichen können. Wegen der Fokussierung auf Bewertungen möchten Anleger Prognosen, die sich im Wesentlichen kurz gesagt aus Buchhaltungen ableiten lassen, obwohl jede wissenschaftliche Untersuchung und die eigene Erfahrung zeigen, dass Vorhersagen bestimmter Kurse zu bestimmten Zeiten utopisch sind. Börsianer möchten die Firmen, in deren Aktien sie investieren, so verstehen, wie wenn sie bilateral mit der Gegenpartei an einem Tisch sitzend den Preis aushandeln würden. Das tun sie aber nicht. In dem Moment, in welchem Anteile von Unternehmen öffentlich gehandelt werden, werden Käufer und Verkäufer Teil eines Systems, und zwar eines öffentlichen, kommunikationsintensiven Systems, das aus sich heraus, emergent, eine spontane Ordnung bildet, die alle Eigenschaften pfadabhängiger Systeme aufweist. Wegen dieser Fehleinschätzung wird die Bedeutung von Bewertungen in einer nicht systemkonformen Art priorisiert. Robert Shiller hat in einer mehr als 100 Jahre umfassenden Studie klar gezeigt, dass zwischen Aktien-Kursen und Bewertungen keine stabile Korrelation besteht. Bewertungen spielen nur dann eine Rolle, wenn die zweite Eigenschaft pfadabhängiger Systeme, die darin besteht, dass über mehrjährige Zeitabschnitte ein sogenannter Lock-in gebildet wird, zu Ende geht. In Lock-in-Perioden werden aus der Nachrichtenflut gewisse Elemente entnommen und zum Paradigma hochstilisiert. Was nicht dazu passt, wird ignoriert. Ein typisches Beispiel ist die Immobilien-Blase und ihre unsolide Finanzierung, die 2007 zur Finanzkrise führte. Wenn heute oft behauptet wird, niemand habe gewarnt, so entspricht das nicht der Wahrheit. Wahr ist, dass Warnungen durchaus ausgesprochen wurden, doch fanden sie keinen Eingang in die Medien und keinen Eingang in die meisten Anlagestrategien. Lock-in-Perioden setzen eine starke Einheitsfront («Partei der Bullen») voraus, welche mit einer zersplitterten Gegenpartei («Partei der Bären») Transaktionen tätigt. Irgendwann bröckelt die Einheitsfront im System. Populationen aus der Partei, die das System dominierte – die Partei der Bullen in der Hausse, die Partei der Bären in der Baisse – und die gerade durch ihre Dominanz den Lock-in herstellten, migrieren zur Gegenpartei. Bislang ausgeblendete Informationen erlangen Bedeutung. Eine sogenannte Bifurkation ist entstanden, eine Phase, in der das System instabil geworden ist, neue Themen zu verarbeiten beginnt und auslotet, in welche Richtung seine weitere Evolution verlaufen wird. Auf Bifurkations-Phasen trifft das Diktum zu, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings über dem Amazonas einen Sturm in New York auslösen kann. In einer solchen Phase befinden sich die Aktienmärkte. Um noch einmal Hildebrand zu zitieren: «Wir sind in einer Welt, in der niemand mehr die globalen Wertschöpfungsketten im Detail nachvollziehen kann.»
Eine Bifurkations-Phase ist die Folge der Populationen-Migration zwischen den Parteien und der dadurch entstehenden heterogenen Struktur des Marktes. Herrschten während des Lock-ins übereinstimmende Erwartungen trotz unterschiedlicher Ansätze, wie Erwartungen gebildet werden, unterscheiden sich die Erwartungen zunehmend mit den Ansätzen. In solchen Phasen geben kapitalgewichtete Indizes keine realitätsnahe Auskunft über den Verlauf der Kurse der meisten Aktien. Trends in unterschiedlicher Richtung weisen nicht nur einzelne Aktien auf, sondern auch Industrien und Sektoren. Die Folge davon ist, dass mehr Positionen ungünstig verlaufen, die Verunsicherung nimmt zu, und damit auch das Bedürfnis, neuste Nachrichten aufzusaugen und darauf zu reagieren. Die Ursache für die Handlungen liegt nicht darin, dass das Umfeld für die Anlagekategorie Aktie grundsätzlich als positiv bewertet wird, sondern darin, dass man meint, jene Sektoren und Industrien identifizieren zu können, die trotzdem positive Ergebnisse zeitigen werden. Wenn auch die Sektoren und die Industrien heterogen werden, werden Aktien von Unternehmen ausgesucht, von denen unter allen Umständen Gewinnsteigerungen erwartet werden. Jede Meldung, die lediglich die Erwartungen bestätigt, führt zu oft dramatisch rückläufigen Kursen. Positive Kursreaktionen gibt es nur bei positiven Überraschungen. Diese Kombination einer heterogenen Marktstruktur mit der beschriebenen Reaktion auf Nachrichten ist typisch für Bifurkations-Phasen. Ferner werden Befunde aus der Behavioral Finance-Forschung, die im Lock-in nicht auffallen, manifest, indem Heuristiken zunehmend eine Rolle spielen. So kann beispielsweise beobachtet werden, dass die am häufigsten in den Medien ausgewälzten Themen, unabhängig ihrer Bedeutung, kursrelevant werden (Verfügbarkeit-Heuristiken), dass aktuelles Geschehen mit markanten Ereignissen aus der bekannten Vergangenheit verglichen wird (Repräsentativitäts-Heuristiken, z.B. aktuelle Vergleiche mit dem Crash 1987, Vergleiche mit Saisonalitäten, die völlig unzuverlässig sind), und die sogenannten raschen Muster-Komplettierungen besonders prominent sind (der halbe Satz von Draghi wird ergänzt bevor er ausgesprochen ist und treibt zum sofortigen Handeln an). Sehr viel Lärm, wenig Substanz, ist die Zusammenfassung des Geschehens. Die Herausforderung besteht darin, Lärm von Substanz zu unterscheiden. Darin versteckt liegt denn auch die Antwort auf die Frage, ob damit zu rechnen ist, dass sich die Bifurkations-Phase noch fortsetzt oder ein neuer Pfad eingeschlagen wird, und welche Richtung dieser nehmen dürfte.
Meine Einschätzung ist die, dass die Märkte derzeit nicht bereit sind, die Bifurkations-Phase zu verlassen. Dazu haben zu viele Aktien bereits einen Bärenmarkt vollzogen. Lock-in-Phasen beginnen nach einer Bifurkations-Phase und halten meistens über Jahre an. Sie müssen meistens nur monats-, zum Teil quartalsweise, überprüft werden. Bifurkations-Phasen bedürfen der täglichen Überprüfung. Sie stellen intellektuelle Gymnastik dar. Es geht hier sehr stark darum, nutzlosen prozyklischen Aktivismus zu vermeiden. Dies gesagt, rechtfertigt folgenden Vorbehalt: In einem Lock-in bestehen robuste Erwartungen, die nicht täglich überprüft werden müssen. In einer Bifurkation ist es anders. Hier müssen täglich mehrere wichtige Parameter überprüft werden. Es ist mir im Rahmen des Newsletters nicht möglich, mich zwischen den Erscheinungsdaten zu Wort zu melden, wenn meine Meinung geändert werden muss. Dafür sind die UNIFINANZ Monitore da.
Alfons Cortés
Senior Partner
Unifinanz Trust reg.
Austrasse 79
LI-9490 Vaduz
Telefon +423 237 47 60
Fax +423 237 47 67
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