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Hier anmeldenIn der "NZZ am Sonntag" vom 19. Januar erschien ein Beitrag von Jens Korte unter dem Titel "Nach dem Rallye an den Börsen muss Corporate America liefern". Im Untertitel wurde die Position des Verfassers zusammengefasst: "Die Firmengewinne sind im vierten Quartal wohl erneut gesunken. Gibt es 2020 keinen Umschwung, droht ein scharfer Einbruch."
Das kann durchaus sein. In diesem Beitrag vertrete ich jedoch eine andere Sicht.
Doppelspitze
Das nach oben gerichtete Kursmomentum hat mittlerweile eine Breite erfasst, die dafür spricht, dass Aktienmärkte sich nicht gross von negativen Meldungen beeindrucken lassen.
Ebenso plausibel wie die von Jens Korte und vielen anderen vertretene Auffassung ist die, dass die Börse weiterhin Innovation honoriert, weil kein Unternehmen sich den Zukunftsthemen wie kollaborativen Robotern oder dem Internet der Dinge verschliessen kann. Dazu kommt auch, dass die Anlageklasse Aktie die einzige Bastion ist, die von der Asset Price Inflation nicht in luftige Höhen getrieben wurde. Immerhin gilt zu beachten, dass der MSCI Welt Index erst im November 2019 die Kurse von Januar 2018 egalisiert hat. Bis in den Herbst hinein hat es gedauert, bis die Marktteilnehmer die hohe Selektivität aufgegeben und angefangen haben, Aktien zu kaufen, die zuvor gemessen an ihren Kursen von Ende Januar 2018 doppelstellige Kursverluste aufwiesen. Das Kurs- und das relative Momentum, das im Herbst 2019 in zyklische Aktien zurückgekehrt sind ohne dass die wirklich starken Sektoren wie Information Technology und Healthcare darunter gelitten hätten, ist es, was ich mit dem Modewort der Doppelspitze meine: Ein Aktienmarkt, der von zwei Narrativen geprägt wird, nämlich Innovation und tiefen Zinsen, so tiefen, dass sie nicht weiter herabgesetzt werden müssen um ihre Wirkung zu entfalten. Wenn dieses Perzept aufgeht, stehen wir am Beginn einer Phase, in der die (Geld-) Flut alle Boote hebt, mit Endstation spekulative Blase und den damit einhergehenden absurden Bewertungen.
Phänomenologie der Aktienbörse
Selbstverständlich spielen Unternehmensgewinne eine Rolle für Aktienkurse. Mit einer Untersuchung von 1871 bis 1999 hat Nobelpreisträger Robert Shiller jedoch gezeigt, dass Aktienkurse sich über lange Zeit sehr stark von der Gewinnentwicklung der Unternehmen absetzen können.
Einen Erklärungsversuch für dieses Phänomen, wenn man es so bezeichnen will, hat der an der Harvard Universität forschende und lehrende Finanzwissenschaftler Andrei Shleifer in seinem Buch "Inefficient Markets. An Introduction to Behavioral Finance" vorgelegt.
Shleifer rückt zwei grosse Themen ins Zentrum, nämlich das, was er als Konservatismus bezeichnet und Repräsentativitätsheuristiken.
Mit Konservatismus beschreibt er den Umstand, dass in gewissen Marktphasen neue Meldungen, die im Widerspruch zu eindrücklichen alten Erfahrungen stehen, nur langsam in das Wissenskonstrukt übernommen werden. Geht man von der veröffentlichten Meinung aus, so scheint dies zuzutreffen auf die immer noch ausstehende mentale Akzeptanz eines Prozesses, den die Aktienmärkte im Herbst 2019 eingeleitet haben und der den Titel meines Beitrages vom 31. Oktober 2019 prägte: "Die Börse nimmt das Ende der Konjunkturabkühlung vorweg".
Als Repräsentativitätsheuristiken werden singuläre Informationen, wie zum Beispiel "Momentum", als stellvertretend für eine ganze Klasse von Informationen angesehen. Als Folge davon bauen sich Entwicklungen auf derart unvollständige Ursachen auf.
Unterreaktion auf den Nachrichtenfluss führt Shleifer auf das Phänomen des Konservatismus zurück und Überreaktion auf Repräsentativitätsheuristiken. Jede dieser Erscheinungen für sich kann verantwortlich für die Entstehung und oft lange Beibehaltung von Kursen sein, die wesentlich von dem abweichen, was etablierte Modelle als "faire Preise" darstellen. Die Aufhebung von Fehlbewertungen als Folge von Konservatismus erfolgt im Vergleich zu den sich verändernden fundamentalen Daten zu langsam, da neue Erkenntnisse sich nur zögerlich durchsetzen. Preisrückkoppelungen wirken auf das Verständnis des ökonomischen Geschehens und führen zur Bildung von Repräsentativitätsheuristiken. Diese wiederum verursachen das Gegenteil von Konservatismus, nämlich ein Davoneilen der Kurse weit über (in Hausse-Phasen) bzw. unter (in Baisse-Phasen) jenen fundamentalen Werten, die aus börsenhistorischer Perspektive als "normal" erscheinen.
Die Kapitulation der "Rationalen"
So entsteht das Bild von zwei Populationen, die mit völlig unterschiedlichen Ansätzen sich im Grunde genommen "bekriegen". Die "Repräsentativitätsheuristiker" verwenden Schlagzeilen, die sich oft auf das Kursmomentum reduzieren, und die "Konservativen" brauchen Zeit für ihre Hintergrundanalysen. Somit hinterlassen sie ein Vakuum, das vom Momentum gefüllt wird, das Repräsentativitätsheuristiker selbstreferentiell antreiben. Im Lager der "Konservativen" dürften sich viele institutionelle Anleger befinden, die zwar passiv investieren, doch auf einer Ebene um aktive Entscheide nicht herumkommen, nämlich auf der Allokationsebene. In ihrer Welt, die jene honoriert, welche bei einem um 30% gefallenen Benchmark nur 27% verloren haben, und jene bestraft, die bei einem um 30% gestiegenen Benchmark lediglich 27% gewonnen haben, ist der Zwang zur Anpassung an das Verhalten der kursbestimmenden Gruppe, gleichgültig, was sie zu ihrem Handeln antreibt, eine nackte Existenzfrage. Mag vielleicht die neuerdings zu beobachtende starke Zunahme der Markbreite darauf zurückzuführen sein, dass passive Anleger sich von Momentum-Populationen dazu haben verführen lassen, ihre Allokation in Aktien zu erhöhen? Shleifer begnügt sich nicht damit, die Hypothese informationseffizienter Märkte zu widerlegen. Er geht einen Schritt weiter, indem er zeigt, dass gerade das Verhalten der "rationalen" Standardinvestoren unter Umständen zu den Wirkungen führen können, die die Effizienzmarkthypothese widerlegen.
Die Domäne des Interaktionismus
Die Börse ist nicht die Domäne des Individualismus, sondern, um einen Begriff von George Akerlof und Rachel Kranton aus "Identity Economics" zu entlehnen, jene des Interaktionismus. Zahlreiche Experimente, darunter auch im genannten Buch von Akerlof und Kranton aufgeführte, demonstrieren das Ansteckungspotential, das in einem interaktiven System aus oberflächlich sichtbarem Erfolg hervorgehen kann – wie zum Beispiel Momentum an der Börse. Das führt dann dazu, dass ich derzeit Zuschriften erhalte wie folgende: "Im Moment läuft am Markt alles wie am Schnürchen. Ich möchte nach wie vor meine geparkte Liquidität anlegen. Ich warte auf die Korrektur, aber sie kommt nicht wirklich...". Das ist der schwache Moment vieler "Konservativen", die bei anhaltendem Momentum dazu neigen, ihre Positionen aufzuweichen und zur Partei der "Repräsentativitätsheuristiker" zu migrieren und als Spätkonvertierte besonders radikal die Argumente letzterer zu vertreten.
Aktienkauf "en gros"
Spekulative Blasen an den Aktienmärkten sind Teil der institutionellen Auslegeordnung der Aktienmärkte. Die Veränderungsrate, die Investoren herbeiführen, deren Tun gar nicht dem Rationalitätsparadigma der Hypothese informationseffizienter Märkte entspricht, zwingen gerade jene Akteure, deren Karriere vom relativen Erfolg abhängt, spekulative Blasen anzuheizen.
Dieser Markt, der seine letztes Jahr praktizierte Selektivität aufgegeben und zum Aktieneinkauf "en gros" geschritten ist, hat das Potential, in eine spekulative Blase zu münden. Er beinhaltet auch die Gefahr eines – ganz im Sinne von Jens Korte – Kursschocks. Zur Erinnerung: Kursschocks sind vorübergehende Erscheinungen, denen auszuweichen sich nicht einmal mittelfristig, geschweige denn langfristig lohnt. Die Gefahr eines Bärenmarktes sehe ich nicht. Ich bleibe bei meinen Ausführungen in meinem Beitrag vom 9. Januar: Der "Worst Case" ist eine Korrektur, aber kein Bärenmarkt.
Alfons Cortés
Senior Partner
Unifinanz Trust reg.
Austrasse 79
LI-9490 Vaduz
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